Gämsen – Wildtiere in Extremlebensräumen

Gämsen – Wildtiere in Extremlebensräumen, OÖ LJV

Gämsen sind jedem Bergwanderer bekannt, sind diese doch tagaktiv und haben eine geringere Fluchtdistanz als Hirsche oder Rehe, sodass diese Tierart gut zu beo¬bachten ist. Jetzt im November spielt sich im Gamslebensraum die alljährliche Fortpflanzungszeit ab. Warum die Brunft in diese Jahreszeit fällt und es für die Tiere äußerst wichtig ist, dass Menschen - vor allem im Winter - die Wege nicht verlassen, lesen Sie im folgenden Beitrag.

 

Wahre Überlebenskünstler
Gamswild kann nicht nur in extremen Lebensräumen, nämlich in den gebirgigen Teilen unseres Bundeslandes, den Winter überleben, sondern ist auch in anderen Bereichen ein echter (Über)Lebenskünstler. So sind sie im Sommer sogenannte Konzentratselektierer, d.h., sie er-nähren sich – wie Rehe – von Kräutern, Knospen und Trieben, im Winter aber Raufutter-fresser, d.h., dass sie wie Rothirsche Gras zu sich nehmen und mit Hilfe von Magen-Bakterien die Zellulose aufschließen können.
Aber auch bei der Brunft, der Fortpflanzungszeit, unternehmen die Gämsen eine Gratwande-rung, die nicht immer gut ausgeht. Denn die Brunft findet von November bis Anfang Dezem-ber, also sehr spät im Jahr statt und das bedeutet, dass während des Sommers genug Energie-reserven angefressen werden müssen. Und tatsächlich haben reifere Gamsböcke, also männli-che Tiere ab dem 6. bis 7. Lebensjahr (die Geschlechtsreife setzt ab dem 3. bis 4. Lebensjahr ein), schon Anfang August erhebliche Feistmengen (Fett) aufgebaut. Bis zur Brunft werden diese Feistreserven noch erhöht, denn während dieser Zeit nehmen die Böcke kaum Nahrung auf. Dazu kommt noch, dass sich diese mit Nebenbuhlern – trotz Droh- und Imponiergebär-den – energiezehrende Hetz- und Verfolgungsjagden liefern. Die Energiereser¬ven müssen jedoch nach der Fortpflanzungsperiode noch ausreichen, um den Winter in den Bergen mit der kar¬gen Nahrung (Flechten und freigewehtes Gras) zu überleben. Durch den Menschen verursachte Störreize (Variantenschifahrer, Gleitschirmflieger außerhalb offizieller Routen, Querfeldein-Wanderer, häufige Jagd etc.) können dazu führen, dass die Tiere zu wenig Nah-rung aufnehmen können und so schwach in den Winter kommen.
Diese Überlegungen zeigen aber auch auf, dass die Sozialstruktur und das Geschlechterver-hältnis für den Gamsbestand äußerst wichtig sind. Denn wenn es zu wenig Böcke gibt oder die Böcke nicht ausreichend alt und erfahren sind, überleben viele den Winter nicht. Dies muss auch der Jäger berücksichti¬gen, der die Gämsen nachhaltig jagdlich nutzen möchte.

Aber warum ist die Brunft so spät im Jahr und nicht wie bei Reh- oder Rotwild im Sommer oder im frühen Herbst, wenn danach noch genug Nahrung vorhanden ist?
Die Tragzeit von etwa 6 Monaten ist bei der Gämse genetisch festgelegt und es gibt keine Keimruhe, wie dies z.B. beim Rehwild festgestellt wurde. Damit aber für die Kitze optimale Aufzuchtbedingungen vorhanden sind und sie bis zum Winter kräftig genug sind, müssen diese im Mai bis Juni gesetzt (geboren) werden.

Aber zurück zur Brunft selbst: Gamsböcke haben Fettreserven von 3,6 bis 4,2 Kilogramm lösbares Fett und 1 bis 2 Kilogramm verborgenes Fett (etwa im Blut oder Knochenmark)! Um diese Mengen aufzubauen, bedarf es einer enormen Volumenvergrößerung des Pansens (einer von vier Mägen der Wiederkäuer) – und tatsächlich fasst der Pansen im September etwa 8 bis 9 Liter. Damit während der Brunft aber trotz des enormen Gewichtes rasante Jagden möglich sind, verkleinert sich der Pansen durch die minimierte Nahrungsaufnahme auf etwa 45% des vorherigen Volumens und fasst dann etwa 3,5 bis 4 Liter weniger. Durch den fast leeren Ma-gen-Darm-Trakt verringert sich auch das Gewicht wieder, sodass das Zusatzgewicht nicht allzu hinderlich wird. Möglich werden diese unglaublichen körperlichen Leistungen während der Fortpflanzungszeit auch nur, weil Gämsen eine dickere Herzwand haben als andere Säuger vergleichbarer Größe. So erreichen die Tiere problemlos eine Pulsrate von 200 Schlä-gen/Minute, und das über längere Zeit (zum Vergleich: Beim Menschen steigt bei großer Ans-trengung der Puls kurzfristig auf 160 Schläge/Minute). Außerdem besitzen Gams eine große Anzahl rote Blutkörperchen, die für den Sauerstofftransport verantwortlich sind, sodass ihnen bei ihren Manövern nicht so schnell die Luft ausgeht.
Wenn Sie also bei einer Ihrer nächsten Wanderungen in den Bergen Gämsen sehen, denken Sie an deren unglaublichen Leistungen und beobachten diese aus für die Tiere störungsfreier Distanz.

 

Von Mag. Christopher Böck, Wildbiologe

   
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